Am 26. Juli 2021 fand ein Abend zu Max Duttenhofer, Begründer der Rottweiler Pulverfabrik und (Mit)Protagonist meines Romans „Pulver“ statt. Ob dieser als Elon Musk der Kaiserzeit gelten kann oder man ihn eher mit Alfred Krupp oder Gottlieb Daimler vergleichen sollte, ob seine Figur aus zeitlichem Abstand Kritik oder Anerkennung verdient, darüber wurde an diesem Abend viel diskutiert. Ich las dazu Ausschnitte aus meinem Romanmanuskript.
Die Neue Rottweiler Zeitung veröffentlichte zu dem Abend folgenden Artikel:
Zu den 10 Kapiteln meines Romanprojekt „Pulver“, das die Geschichte einer schwäbischen Schießpulverfabrik und ihres Begründers erzählt, fertigte ich während des Arbeitsprozesses jeweils eine Collage an. Aktuell bin ich in den letzten Zügen der Überarbeitung des Romanmanuskripts.
Collage „Produktionsfortschreibungen“ zu Kapitel 10
Collage „Frontlogistik“ zu Kapitel 9
Collage „Kinderchemie“ zu Kapitel 8
Collage „Fahrtenmesser“ zu Kapitel 7
Collage „Gegenschuss“ zu Kapitel 6
Collage „Patriotendampf“ zu Kapitel 5
Collage „Hausgrabungen“ zu Kapitel 4
Collage „Pulver Ahoi“ zu Kapitel 3
Collage „Linguae“ zu Kapitel 2
Collage „Conjunctio“ zu Kapitel 1
Die NRWZ schreibt zu meinem Romanprojekt „Pulver“ und den Recherchen hierzu:
Einige der Themen, die bei „Pulver“ eine Rolle spielen, klingen in dem Essay Die zweite Schicht, das zweite Gesicht an, den ich zu meiner Verabschiedung als Rottweiler Stadtschreiber vorstellte.
Im Sommer 2013, als ich die Arbeit an Land, Maschinen, Paradies begann (damaliger Arbeitstitel „Landmaschinenmusik“), führte ich ein Werkstatttagebuch unter http://landmaschinenmusik.wordpress.com/
Die Kurzgeschichte Zwei Frauen, die 2009 in der Anthologie Das Beste aus dem MDR-Literaturwettbewerb 2008 “Flussab” Rotbuch Verlag, Berlin veröffentlicht wurde, ist hier online zu finden: http://www.lyrikwelt.de/gedichte/reisserg1.htm
Auszüge aus der Kurzgeschichte Graitinger in der Form, in der sie in dem von Marie Lammers gestalteten und illustrierten Buch 50/50 erschien. (Die Kurzgeschichte wurde außerdem in der Anthologie Kampf der Künste (Verlag SuKuLTuR) und in der Literaturzeitschrift DUM veröffentlicht.)
Essay „Indem man Dada sagt“ zu Hugo Ball und sein Verhältnis zu Welt und Sprache, veröffentlicht 2010 in der Literaturzeitschrift karawa.net sowie auf der Internetplattform Dada-Dada
»Indem man Dada sagt« – mit Hugo Ball auf dem sich entziehenden Grat zwischen Welt und Sprache
Ball meets Wittgenstein – Die Gesamtheit der Tatsachen und das Lexikon
»Wie erlangt man die ewige Seligkeit? Indem man Dada sagt. Wie wird man beruehmt? Indem man Dada sagt. Mit edlem Gestus und mit feinem Anstand. Bis zum Irrsinn, bis zur Bewusstlosigkeit. (…). Dada ist die Weltseele. Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt.«
Was das zu bedeuten hat, »wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat.« So ließe sich mit Wittgensteins Vorwort zu seinem Tractatus logico-philosophicus, Wien 1918, die eingangs zitierte Stelle aus dem Eroeffnungs-Manifest, 1. Dada-Abend, Zürich 14. Juli 1916, von Hugo Ball kommentieren. Wittgenstein und Ball: zwei sprachbegabte Denker, die während des Ersten Weltkriegs versuchen, Großproblemlagen über die Logik der Sprache zu lösen. Wobei man sich über den Status des »Unsinns« uneins ist.
Wittgenstein in seinem Tractatus:
»1. Die Welt ist alles, was der Fall ist.« Fußnote hierzu: »Die Dezimalzahlen als Nummern der einzelnen Sätze deuten das logische Gewicht der Sätze an, den Nachdruck, der auf ihnen in meiner Darstellung liegt. Die Sätze n.1, n.2, n.3, etc. sind Bemerkungen zum Satze No. N; die Sätze n.m1, n.m2, etc. Bemerkungen zum Satze No. n.m; und so weiter.« Dann: »1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. 1.11 Die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, daß es alle Tatsachen sind.«
Ball in seinem Manifest:
»Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist furchtbar einfach. Im Franzoesischen bedeutets Steckenpferd. Im Deutschen: Addio, steigt mir bitte den Ruecken runter, auf Wiedersehen, ein ander Mal! Im Rumaenischen: ‚Ja wahrhaftig, Sie haben Recht, so ist es. Jawohl, wirklich. Machen wir‘. Und so weiter.«
Auf der einen Seite die seiende Welt, in klar abgestuften Gewichtungen präzise zur Aussage gebracht, auf der anderen Seite das Wort, das seltsamste Wandlungen vollzieht und verschiedenste Wörterbücher unstetig heimsucht. Man kann das andere als die Rückseite des einen sehen. Denn gerade, wo Wittgensteins Welt mittels einer zur äußersten Präzision gezwungenen Sprache eine Grenze zieht, jenseits derer der »Unsinn« beginnt, das »Mystische« und »Unsagbare«, das, wovon man dem wuchtigen Schlusssatz des Tractatus nach lieber schweigen soll, beginnt der Wirkungsbereich Dadas.
Bestrickungen und Verkettungen – Die Erfindung der Sampling-Maschine
Dada: »Nur ein Wort und das Wort als Bewegung. Es ist furchtbar einfach.«, schreibt Ball in seinem Manifest. Dies präzisiert Richard Huelsenbeck, engster Kollaborateur Balls in Zürich, im Dada-Almanach von 1920: »Dada kann man nicht begreifen, Dada muss man erleben. Dada ist unmittelbar und selbstverständlich.«
Wir halten fest: Das Wort als Bewegung (Dada) versus das Wort als Fest-Stellung (Welt). Wobei man die Bewegung scheinbar nicht begreifen, sondern nur erleben kann. Etwa in Zürich 1916: Da treffen sich unter anderem Hugo Ball, für den das »Bild des Menschen (…) mehr und mehr verschwindet und alle Dinge nur noch in der Zersetzung vorhanden sind«, Richard Huelsenbeck, der »den Rhythmus verstärk[en]« und »am liebsten die Literatur in Grund und Boden trommeln möchte« und Hans Arp, der die »Geschwollenheit der malenden Herrgötter« nicht mehr erträgt und kritisch nach dem, »was Bilder konstituiert«, fragt. Eine Gruppe junger Männer, die den bestehenden Darstellungs- und damit verbundenen Verhaltensformen ihrer Gesellschaft mehr aggressiv ablehnend als nur begründet skeptisch gegenüberstehen.
Gemeinsam findet man Formen, sich zu seiner Zeit zeitgemäß zu äußern. In der Einleitung zu Balls Flucht aus der Zeit heißt es: »So stellten sich 1913 Welt und Gesellschaft dar: das Leben ist völlig bestrickt und verkettet. Eine Art Wirtschaftsfatalismus herrscht und weist jedem Einzelnen, mag er sich sträuben oder nicht, eine bestimmte Funktion und damit seinen Charakter an.« Hierauf reagiert die Züricher Gruppe junger Männer um Ball nicht mit einem Humanismus-Relaunch in alten Schläuchen. Hugo Ball 1917: »Ich kann keine Romane mehr lesen. Immer wieder versuche ich es, vermag aber dieser übervölkerten, abführenden Kunstform keinen Geschmack abzugewinnen.« Die klassischen Repräsentationsformen des Bürgertums wie der Roman, »romantisierende Bücher von Leuten, die nie imstande wären zu sein, was sie träumen«, haben ihre Aussagefähigkeit verloren. So erfindet man neue Formen, die der aktuellen Weltwahrnehmung gerecht werden, etwa das Simultangedicht. Ball dazu:
»Der Eigensinn eines Organons kommt in solchen Simultangedichten drastisch zum Ausdruck und ebenso seine Bedingtheit durch die Begleitung. (…)Das Gedicht will die Verschlungenheit des Menschen in den mechanistischen Prozeß verdeutlichen. In typischer Verkürzung zeigt es den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind.«
Da klingt Nietzsches Prophezeiungen von der Wiederkehr eines tragischen Zeitalters nach dem Menschen nach, in die sich aber auch schon Ahnungen von dem Verschneiden von vorgefundenen Prozessen zu einer Symphonie einer Großstadt oder von elektronischer Maschinenmusik mischen. Sich von romantischen Bürgerträumen verabschiedend weist der Zürcher Dada-Think Tank mit seinem bewusst künstlichen Sampling von vorgefundenen Wahrnehmungssamples den Weg in die Gegenwart: Mensch-Maschine ante portas.
Weltneuheit mit Kippmoment – Vom Lautgedicht zum Priestertum
Die Sprachexperimente der Dadaisten führen mit der Entdeckung neuer Techniken auf ein Terrain, auf dem das Material der Sprache in einem neuen Licht erscheint. Aus Balls Tagebuchaufzeichnungen von 1916:
»Wir haben die Plastizität des Wortes jetzt bis zu einem Punkte getrieben, an dem sie schwerlich mehr überboten werden kann. Wir erreichten dies Resultat auf Kosten des logisch gebauten, verstandesmäßigen Satzes (…) Wir haben das Wort mit Kräften und Energien geladen, die uns den evangelischen Begriff des ‚Wortes‘ (logos) als eines magischen Komplexbildes wieder entdecken ließen. Wir suchten der isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwörung, die Glut eines Gestirns zu verleihen. Und seltsam: die magisch erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen neuen Satz, der von keinerlei konventionellem Sinn bedingt und erfüllt war. An hundert Gedanken zugleich anstreifend, ohne sie namhaft zu machen, ließ dieser Satz das urtümlich spielende, aber versunkene, irrationale Wesen des Hörers erklingen; weckt und bestärkte er die untersten Schichten der Erinnerung.«
Da quillt alchimistisches Raunen aus gnostischem Nebel… Anders als Kollegen Huelsenbeck, Tzara, Arp und Janco suchte Ball in seinen Experimenten stets nach Ursprüngen, Wiederkehrten und Erinnerungen an tiefe Vorzeit. Auf der Flipside des Sprachpositivismus des jungen Wittgensteins führt die Wiederentdeckung der Plastizität und Eigendynamik der Sprache jenseits des Paradigmas (bzw. mit Foucault: des epistemes) der Repräsentation so bei Ball nach einem kurzen Moment der Innovation sogleich zur Regression. Dieser Kippmoment zeigt sich am deutlichsten in dem Tagebucheintrag Balls über seine erste Rezitation von Lautgedichten im Cabaret Voltaire am 23. Juni 1916:
»Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, ‚Verse ohne Worte‘ oder Lautgedichte (…) Die ersten dieser Verse habe ich heute abend vorgelesen. Ich hatte mir dazu ein eigenes Kostüm konstruiert. (…) Meine Beine standen in einem Säulenrund aus blauglänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, so daß ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen, aus Pappe geschnittenen Mantelkragen (…) Dazu einen zyklinderartigen, hohen, weiß und blau gestreiften Schamanenhut. (…) Also ließ ich mich, da ich als Säule nicht gehen konnte, in der Verfinsterung auf das Podest tragen und begann langsam und feierlich:
gadij beri bimba
glandridi lauli lonni cadori
gadjama bim beri glassala
glandridi glassala tuffm i zimbrabim
blassa galassa tuffm i zimbrabim…
Die Akzente wurden schwerer, der Ausdruck steigerte sich in der Verschärfung der Konsonanten. Ich merkte sehr bald, daß mein Ausdrucksmittel, wenn ich ernst bleiben wollte (und das wollte ich um jeden Preis), dem Pomp meiner Inszenierung nicht würden gewachsen sein. (…)Wie sollte ich’s aber zu Ende führen? Da bemerkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm, jenen Stil des Meßgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes wehklagt. Ich weiß nicht mehr, was mir diese Musik eingab. Aber ich begann meine Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile zu singen (…)«
Die verwandelnde Wirkung von Masken hatte Ball schon ein paar Wochen früher bei einer Gruppenperformance mit Masken von Janco kennen gelernt. Ball berichtet hiervon: »Ohne es fünf Minuten vorher auch nur geahnt zu haben, bewegten wir uns in den absonderlichsten Figuren (…) einer den anderen in Einfällen überbietend. Die motorische Gewalt dieser Masken teile sich uns in frappierender Unwiderstehlichkeit mit.« Der Einzelauftritt in Ganzkörpermaske führt in eine andere Richtung. Wer Balls Bericht von der Erfindung des Lautgedichts liest, wird den plötzlich aufscheinenden, sakralen Fluchtweg kaum als unvorbereitet einzustufen. Wer seinen Körper zur Stele macht und sich dazu einen mitraartigen Schamanenhut bastelt, der dürfte nicht sonderlich überrascht sein, sich plötzlich sakrale Gesänge singen zu hören. Interessanter die scheinbare Dringlichkeit der Lösung, die von Ball dramatisch in Szene gesetzt wird. Ecce homo: Da ist jemand, der um jeden Preis ernst bleiben will und um die ungebrochene Aufführung seiner Erfindung besorgt ist. Resultat: Von außen betrachtet bleibt die Inszenierung der Geburtsstunde einer neuen Gedichtform unantastbar wie die Kostümierung Balls, im Inneren jedoch fällt die Konzeption dem Willen zur Souveränität zum Opfer. Statt, wie im eigenen Manifest gefordert, den »eigenen Unfug, und Vokale und Konsonanten dazu« erklingen zu lassen, spricht plötzlich das die Souveränität rettende Phantasma der Rückkehr zum Ursprung – Kurzschluss – Urpriestertum.
Damit gibt es tatsächlich keinen Bruch in Hugo Balls Entwicklung (was darzulegen Anliegen der im Todesjahr 1927 herausgegebenen Tagebuchaufzeichnungen in Flucht aus der Zeit war), sondern ein fortgeschriebenes und fortgelebtes Kippmoment mit darauf folgender, fluchtartiger Regression. Balls Vertiefung in den katholischen Mystizismus ab 1919 ist in dem Moment, als er das welterste Lautgedicht vor der Öffentlichkeit produziert, schon angelegt. Der Aufsatz Die religiöse Konversion aus dem Jahre 1925 buchstabiert das nur noch aus: Rückkehr zur Kirche als Weg, von Gewalt und Vernichtung der Gegenwart loszukommen und zur Utopie zu gelangen, Besinnung auf den Katholizismus zur Befreiung von Kräften, die in die Kindheit zurückreichen: Hingabe, Vertrauen, Liebe, Glaube, Schutzbedürfnis. Den Glauben an das erwachsene Selbst und an die Gegenwart hat Ball da längst verloren, es bleiben die persönlichen und historischen Vergangenheiten als Anker für ein weltabgewandtes Leben in Enthaltsamkeit.
Doppelgesichtiges Kinderlachen – Der Zufall und das Ja zur doppelten Kontingenz
Ball besinnt sich also zurück auf das ängstliche Kind, das den Schutz von Eltern, göttlicher Ordnung und großen Signifikanten braucht. Ein ganz anderes Kind als dasjenige, welches Nietzsche mit Rückverweis auf Heraklits Vorstellung vom Weltenlauf als göttlichem Spiel im Sinn hat, wenn er von dem Kind als der letzten Entwicklungsstufe hin zum Übermenschen spricht. Für Nietzsche kann nur das unschuldig spielende Kind neue Werte schaffen und einen Neubeginn herstellen, da es vergessen kann. Einen derartigen Neubeginn hatte Ball wohl erst auch mit Dada im Sinne.
Hugo Ball, Tagebucheintrag vom 11. April 1917: »Fürs deutsche Wörterbuch. Dadaist: kindlicher, donquichottischer Mensch, der in Wortspiele und grammatikalische Figuren verstrickt ist.« Indem Ball Dada, gerade erst vor einem Jahr von ihm als vielfach belegbaren Begriff im Wörterbuch gefunden, als konventionalisierten Begriff einer abgelegten Haltung wieder ans Wörterbuch zurückgibt, ist dies ein Abschied. Für Ball ist Dada wieder zum Fremdwort geworden. 1921 schreibt er rückblickend: »Als mir das Wort ‚Dada‚ begegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysius. D.A. – D.A.« Ab Frühjahr 1917 ist statt der nietzscheanischen Deterritorialisierungs-Gottheit mit scheinhafte Klarheit produzierendem Gegenpart nun damit die christliche Reterritorialisierung mit dem byzantinischen Heiligen Dionysios Areopagita gemeint. Letzteren missionierte angeblich der römische Proto-Konvertit Paulus vom Mitglied des athenischen Areopags zum Heiligen. Hugo Ball widmete ihm den größten Teil seines Buches Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben – eine Art Alternativ-Autobiographie. Himmelreich statt irdischer Gerichtshof, Schutz versprechender Glaube statt Ja zum Spiel, Flucht in die Tiefe statt beständiger Erneuerung…
Ball macht so mit dem Ausspruch Paulus’ »Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig« ernst. Er entzieht sich Dada, dem »Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind«, stuft Dada zum Lexikoneintrag zurück. Ball verlangt es nach eindeutigen, endgültigen Lösungen, welche aber nicht in der realen Welt und Sprache, wohl aber in Phantasmen, Glauben und Ideologie zu haben sind. Hugo Ball ist da kein Einzelfall. Rückfall in Konservatismus und Konversion, Abwendung von einer »ästhetizistischen« Weltsicht bilden geradezu ein Grundmuster modernistischer Erneuerungsbewegungen, prominente Beispiele für Rückfälle mit mystischen Beiklängen aufzuzählen fällt nicht schwer: Brentano, Schlegel, Wilde, Eliot… – Kennst du das Land, wo der Pilzzerfall auf den Zungen blüht, im dunkeln Laub die Sprache der stummen Dinge glüht?
In einer gemeinsamen, kommunizierbaren Realität beheimatet ist dagegen der Humor – gerade weil sich seine Realität nicht einheitlich verhält. So sieht Freud im Witz das »Einanderaufheben von mehreren Gedanken, von denen jeder für sich gut motiviert ist.« Humor kann mit lebendigen, gelebten Widersprüchen umgehen, er bietet widersprüchlichen Realitäten eine doppelbödige Bühne, auf der Heterogenitäten geschnitten werden und wuchern, ohne sich der Obhut zentraler Signifikanten zu unterziehen. Eine solche Position zur (Kunst-) Philosophie erhoben präsentiert Richard Huelsenbeck mit seinem Dadaistischen Manifest aus dem Jahr 1918 – das auch Hugo Ball unterzeichnet: »Die höchste Kunst wird diejenige sein, die in ihren, Bewußtseinsinhalten die tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert, der man anmerkt, daß sie sich von den Explosionen der letzten Woche werfen ließ« Es geht um eine Kunst, die »den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge« lehrt, eine »Geistesart, die sich in jedem Gespräch offenbaren kann« und die nicht unbedingt an Kunsthervorbringung gebunden sein muss. Wichtig ist die Haltung, die keiner konventionellen Logik gehorcht und in der »man ja sagt zu einem Leben, das durch Verneinung höher will«, in der gilt: »Gegen dies Manifest sein heißt Dadaist sein.« Eine Haltung, welche die nicht auflösbaren Spannungen in Welt und Sprache aushält und sich so wenig Gemeinsinn und gesundem Menschenverstand wie persönlichen Bedürfnissen nach Sicherheit versprechenden Lösungen beugt.
Wie es nun mit Dada halten? Ist Dada lediglich ein »Lachen aus käsiger Verzweiflung« (Ball) oder hat »Dadas Lachen Zukunft« (Huelsenbeck)? Das entscheidet sich daran, wie persönlich man die Dinge, wie persönlich man das Lachen nimmt. Huelsenbeck schreibt:
»Der Dadaist nützt die psychologische Möglichkeit aus, die in seiner Fähigkeit liegt, seine eigene Individualität loszulassen (…). Er ist heute nicht mehr derselbe wie morgen (…). Er ist der Bewegung des Lebens ganz hingegeben, (…) aber er verliert niemals die Distanz zu den Erscheinungen, weil er zu gleicher Zeit die schöpferische Indifferenz (…) nicht aufgibt. (…) Er will das selbstverständliche undifferenzierte, unintellektuelle Leben.«
Undifferenziertes Leben wollen, sich werfen lassen – darin steckt wohl auch viel Dunkles, Unbekanntes, aber im Gegensatz zu Balls Flucht zu Ursprüngen und spirituellen Tiefen ist dieses Unbekannte diesseitig und präsent. Es ist nicht ein Unaussprechliches, sondern etwas, das eines Handelnden bedarf. Es fordert, sich der realen Kontingenz auszusetzen- welche ja auch Ball leitete, als er das Wort Dada fand. Einer doppelten Kontingenz: einmal auf Seite der Dinge, der gelebten Gegenwart, und ein weiteres Mal auf Seiten der Sprache und der darin historisch sedimentierten Zufällen. Sich beiden Seiten auszusetzen und Beides zu wollen, ohne zu wissen, wohin einen Ereignisse und Sprache hinführen, ohne vorschnell zurückzukippen in vertraute Muster – diesen schmalen, überpersönlichen Grat zu beschreiten, ist die unpersönliche, unerbittliche Forderung Dadas.
Ball waren den Gefahren dieses Pfades bewusst, wie eine Tagebuchaufzeichnung vom 13. April 1916, gut zwei Monate nach Eröffnung des Cabaret Voltaire, gut zwei Monate vor seinem Auftritt als magischer Bischof, bezeugt: »(…) Rimbaud ist wirklich geflüchtet, er hat die Exotik erlebt und ein Angebinde davon nach Hause gebracht, das ihn das Leben kostete. Wir andern dagegen schwärmen für den Wüstenkönig und sind sanftlebige Tatarins.« Ist derjenige, der der Sprache zu nahe kommt, immer schon nah an den Abgründen des Mystizismus? Oder legen es inhärente Mechanismen des Mystizismus nahe, der Sprache zu nahe zu kommen? Muss derjenige, der sich der Kontingenz von Sprache und Ereignis aussetzt, bald zu taumeln beginnen und Phantasmen, Ideologien, Theorien oder Handwerken zum Opfer fallen? Was soll man aus den Lebens- und Sprachverläufen von Kuhlmann, von Greiffenberg, Hölderlin, Nietzsche, Rimbaud, Ball, Wittgenstein, Heidegger … lernen?
Dadas unlenkbaren Zukünfte – Vom sich entziehenden Werden zwischen Wort und Welt
Anstatt einer Antwort Hugo Balls Tagebucheintrag vom 12. Juni 1916:
»Der Dadaist vertraut mehr der Aufrichtigkeit von Ereignissen als dem Witz von Personen. Personen sind bei ihm billig zu haben, die eigene Person nicht ausgenommen. Er glaubt nicht mehr an die Erfassung der Dinge aus einem Punkte und ist doch noch immer dergestalt von der Verbundenheit aller Wesen, von der Gesamtheit überzeugt, daß er bis zur Selbstauflösung an den Dissonanzen leidet.«
Damit wäre das Dilemma der Perspektive Balls ein weiteres Mal von ihm selbst auf den Punkt gebracht: zerrissen zwischen der überpersönlichen Haltung, die alles auf die Kontingenz setzt und der eigenen Person, welche die dabei sich ergebenden Dissonanzen nicht erträgt.
Doch nicht alle Pfade Dadas führen in Zerrissenheit und/oder mystische Versenkung, einige führen auch in weit sich verzweigende Zukünfte, in absurdes Theater, Situationismus und Cacophony Society, in Performances, Installationen und Culture Jamming. Man kann bei Dada nicht nur lernen, der Kontingenz der Sprache und der dinglichen Ereignisse offen gegenüberzustehen, sondern auch, wie sich Ereignisse herstellen lassen.
Dabei zerfällt das Erbe Dadas in zwei Teile: in proklamierte Manifeste, die das über das Dadaistische Konzept Sagbare verdeutlichen, und in Aktionen, welche bewusst unlenkbare Ereignisse durch Konfrontation und Eskalation herstellten. Die Wittgensteinsche Trennung von Sagbarem (Welt) und Zeigbarem (Mystisches) wurde so von Dada ins Aktive, Performative, Produktive gewendet. Es wird von da an nicht mehr nach einer idealen Sprache gesucht, die die Welt repräsentiert und auch nicht nach einer sich versenkenden Betrachtung, die einen Urgrund der Dinge zum Erscheinen bringt. Es werden mit Sprechen und Handeln neue Ereignisse erzeugt, die von Ursprüngen wissen, aber zugleich auch davon, dass sie Herkunft und Ursprung notwendigerweise neu konstruieren und damit verunreinigen müssen. Dada darf nicht zum Stil, zum Handwerk werden. Darüber waren sich Ball und Huelsenbeck einig und entzogen sich der Routine – und Dada. Dada blieb aber die Chiffre für das Paradoxon des ständigen Werdens der Wörter und Dinge.
Dada lässt sich weiterhin nicht festhalten. Dada lässt sich nicht in Museen ausstellen. Dada ist nie da, wo man es sucht. Man findet Dada nicht dort, wo es ist. Dada darf niemandem angehören. Dada muss sich selbst unähnlich bleiben. Dada muss es an seiner eigenen Identität fehlen. Dada darf keine Ähnlichkeit mit sich selbst aufweisen. Dada muss ein Wort ohne Platz bleiben, stets überzählig und immer verschoben. Dada darf die leere Stelle nie füllen, sonst treten dort stumme Phantasmen der Mystik oder geschwätzige Phantasmen des Surrealismus auf. Dada ist niemals eine Antwort, sondern der fortwährend die Dinge und Sprachen durchlaufende Ort einer Frage, die weder durch Personen noch durch ein Tieferes oder Höheres beantwortet werden kann:
»Wie kann man alles Aalige und Journalige, alles Nette und Adrette, alles Vermoralisierte, Vertierte, Gezierte abtun? Indem man Dada sagt. Dada ist die Weltseele. Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt.«
Das ist natürlich alles Unsinn. Es fügt sich in kein festes Sinngebungsgerüst. Aber es ist gewiss nicht ohne Bedeutung. Dada bleibt der niemals einholbare Umbruchsmoment, der sich nicht verstetigen und fassen lässt. Da ist nichts, da wird alles:
»Indem man Dada sagt.«