Leckende Archen, löchrige Ordnungen

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Ursula Seeger und ich haben soeben ein Kapitel unseres lyrisch-grafischen Projekts „Unser Haus – Zwölf Schleifen zwischen Zellen und Clouds“ fertiggestellt, das sich mit Mustern und Ordnungen auseinandersetzt, wobei uns u. a. auch die Entwicklung von Einteilungen im Verlauf der Geschichte interessiert hat.

Dass das Ordnen der näheren und ferneren Umgebung und also auch der nichtmenschlichen Natur ein urmenschliches Bedürfnis ist, zeigt sich schon in alten Quellen. So findet isch in einer Beatus-Handschrift aus dem späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert etwa diese Illustration:

Interessanter Weise ähnelt die Einrichtung der Arche Noah hier recht deutlich den Mustern und Setzkästen, die später für das Sammeln und Ordnen von (toten, präparierten) Tieren, Pflanzen oder Mineralien verwendet wurden. Die Rettung vor der Flut, ausgelöst durch den Zorn eines strengen, ordnungsliebenden Gottes über sittliche Unordnung, geschieht in einem akribisch unterteilten Wabenhaus, das zugunsten seiner Ordentlichkeit die Schwimmfähigkeit hintenanzustellen scheint.

Dabei sind immer zwei Wesen einer Art in einem Kasten, konzipiert als minimalistische Reproduktionszelle, untergebracht. Doch erkennen wir darin nicht nur uns bekannte Tierarten, sondern auch eigenwillige Fabelwesen oder Monstren, von dem eines im untersten Stockwerk mit einer Vielzahl von kleinen Köpfen auf einem großen Kopf wohl am groteskesten wirkt (eine Medusa?). Zudem sind diesem Monstertypus zwei getrennte Zellen zugestanden – vielleicht weil die beiden Exemplare im Streit miteinander sind?

In späteren Jahrhunderten erlaubte man sich solche Wildheiten oder Menschlichkeiten beim Ordnen der Natur kaum mehr. Es wurden zunehmend präzise, nüchterne, klar hierarchisierende Muster der Ordnung und der Benennung eingeführt, wie diese Schaukästen aus dem Museum für Naturkunde in Berlin zeigen.

Solche Ordnungsmuster wirken bis in die Gegenwart fort, in der sich naturhistorische Institutionen nun die Aufgabe stellen, die Ergebnisse der Ordnungsanstrengungen früherer Jahrhunderte mit heutiger Technik zu digitalisieren und die entstehenden Daten auszuwerten und über gut geordnete, zugängliche Datenbanken für Nutzer verfügbar zu machen.

Das Museum für Naturkunde in Berlin zeigt dies in ihrer aktuellen Ausstellung.

In dem Projekt, an dem Ursula Seeger und ich arbeiten, sind solche Prozesse Ausgangspunkte für poetische Operationen, wenn wir durchleuchten, wie Menschen sich Behaustheit herstellen, wie sie dabei mit anderen Lebensformen und (Natur)Materialien umgehen und in welchem Verhältnis diese Anstrengungen zu nichtmenschlichen Architekturen stehen.

(Die Beatus-Handschrift, aus der die obige Abbildung stammt, liegt in der John Rylands Library in Manchester, für die Abbildung gilt Creative Commons 4.0 (CC BY-NC-SA 4.0))

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